Das Volk von Stuttgart

Es ist vielleicht mehr als die Ironie der Geschichte, dass punktgenau zum 20. Jubiläum der deutschen Einheit und der damit verbundenen Erinnerung an eine friedliche Revolution unter dem Motto »Keine Gewalt!« in eben diesem Deutschland, in Stuttgart, das genaue Gegenteil zu beobachten ist – und das auch noch als Ausdruck, sogar als Grundlage von Demokratie verteidigt wird. Schon skandieren die Demonstranten in Stuttgart »Wir sind das Volk!« und »Keine Gewalt!« und der gewaltige Aufmarsch vom vergangenen Freitag erinnerte auch optisch stark den Demonstrationszug in Leipzig am 9.Oktober 1989. Es war übrigens jene Demonstration, bei der die DDR-Führung, die zwei Tage zuvor in Berlin die Demonstranten noch hatte zusammenknüppeln lassen, widerstrebend auf Gewalt verzichtete – und damit ganz wesentlich den Weg dafür frei machte, dass sich der Wille des Volkes am Ende durchsetzen konnte. Denn zur friedlichen Lösung von Konflikten gehören immer zwei, die auf Gewalt verzichten. Stuttgart, genauer die baden-württembergische Landesregierung und die Deutsche Bahn sind noch weit davon entfernt, ihren Beitrag dazu zu leisten.

Ein Zufall ist das nicht, sondern die logische Konsequenz einer politischen Entwicklung, die mit den hehren und gerade jetzt so wortreich beschworenen Prinzipien der Demokratie nichts zu tun hat. Gerade heute hat der Bahnchef Rüdiger Grube den Demonstranten jedes Widerstandsrecht gegen ein Wirtschaftsprojekt, hier den Bahnhofsbau, abgesprochen und angekündigt, es ungebremst durchzusetzen. Er beruft sich dabei auf den Parlamentsbeschlüsse, blendet aber natürlich aus, wie solche Beschlüsse schon seit vielen Jahren zustande kommen. Nämlich ohne Beteiligung der Bürger, ohne Mitsprache des Volkes, in Hinterzimmern und Kungelrunden. Lobbyisten, nicht das Volk gehen bei den Abgeordneten ein und aus und diktieren ihre Wünsche in die Gesetze, formulieren sie inzwischen sogar selbst, wie bereits mehrfach bewiesen und auch zugegeben wurde. Und die Politik lässt das geschehen, stellt sich auf die Seite der Wirtschaft und nicht auf die des Volkes, das sie zu vertreten vorgibt. Sogar die Kumpanei mit der Mafia scheut sie nicht, wie die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« aufdeckte – und auf die engen Kontakte des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Oettinger in diese Kreise hinwies. Nicht die Politik bestimmt inzwischen, was im Land geschieht, sondern die Wirtschaft; der Umgang mit der Finanzkrise, die mehrere Staaten Europas an den Rand ihres finanziellen Zusammenbruchs brachte, beweist das eindeutig. Und auch Grube hat heute klar gemacht, worum es hierzulande einzig geht, um die Projekte der Wirtschaft, gegen die er den Einspruch des Volkes nicht gelten lässt: »Sonst wird bei uns keine Brücke, keine Autobahn und kein Windkraftpark mehr gebaut.«

Die Bürger haben diese Entwicklung längst erkannt und reagieren darauf seit Jahren mit Wahlabstinenz. Sie wissen, dass sich durch Wahlen nichts wirklich ändert, dass nur Personen ausgetauscht werden, die die Weisungen der Wirtschaft nun ihrerseits umsetzen. Wahlversprechen werden schon kurz nach den Wahltag gebrochen – und Politiker, wie Franz Müntefering, verteidigen das auch noch vehement. Andere nehmen den Mund nicht so voll, tun aber das Gleiche. Und manche, denen das dann doch irgendwie zu erniedrigend ist, verlassen die Politik und heuern ganz bei der Wirtschaft an, um nicht zu den Kellnern, sondern zu den Köchen zu gehören.

Es ist ermutigend, dass die Menschen in Stuttgart sich diesen Mechanismen nicht mehr unterwerfen wollen und dagegen aufbegehren. Hier trifft sich ihre Motivation mit jener der Demonstranten in der DDR vor mehr als 20 Jahren – wenn auch unter ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen. Schon damals erkannten weitsichtige Bürgerrechtler wie die kürzlich verstorbene Bärbel Bohley, man habe um Gerechtigkeit gekämpft, aber den Rechtsstaat erhalten. Beides ist eben nicht das Gleiche, wie jetzt an den Stuttgarter Vorgängen zu studieren ist. Sie zeigen zugleich, wie weit bundesrepublikanische Politik heute von ihren Verfassungsprinzipien entfernt ist, dass sie auf Bürgerprotest nur jene Antwort hat, die auch die Herrschenden in der DDR zunächst zu geben beabsichtigten – die die Gewalt. Mielke hätte 1989 gewiss gern geschossen, und wenn man das Handeln wie die Rechtfertigungen von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Mappus hört, erkennt man in ihm den Mielke-Typ. Man will – mit aller Gewalt – durchsetzen, was der Wirtschaft nützt, ungeachtet das Schadens, den das für Umwelt, Lebensqualität, Daseinsfürsorge hat. Kosten spielen keine Rolle, denn das Geld, das in die Taschen der Unternehmen fließt, kann man sich beim Bürger mit dem verlogenen Argument notwendigen Sparens wiederholen.

Es ist ungewiss, wie der Konflikt in Stuttgart ausgeht. Unterliegt in ihm das Volk, ist dies auch ein weiterer Verlust an Demokratie, denn dann wird das «Durchregieren« mit immer neuen Maßnahmen fortgesetzt, verschärft – und zugleich der Widerstand dagegen mit allen Mitteln gebrochen. Die Wasserwerfer, Gummiknüppel und Pfeffersprays von Stuttgart waren dann erst der Anfang.

2 Replies to “Das Volk von Stuttgart”

  1. Profillose Appartschik-Typen wie Mappus, Grube & Co. gibt es allerdings in jedem politischen System, ob es sich kapitalistisch oder sozialistisch schimpft.

    Die entscheidende Frage ist und bleibt m.E.: Wie verhält sich „das Volk“, das vom Establishment stets systematisch verdummt und eingeschüchtert wird?

  2. Es ist schon interessant, wie einige Pressekommentare versuchen, den Anlass als nicht angemessen für einen Massenprotest herunterzuspielen: „Friedensdemos, Anti-Atomkraft-Demos, ja das ist existentiell – aber nur ein Bahnhof, nein!“. Dass es sehr existentiell ist, was mit dem Geld des Volkes gemacht wird, Oh nein – das Volk soll doch nicht etwa über die Verwendung seiner Steuergelder bestimmen – das wäre ja die Demokratie allzusehr auf die Spitze getrieben!

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