Wendepunkt Syrien

(pri) Wer wissen will, warum der Krieg um Syrien seit Jahren unvermindert weitergeht und auch in diesen Tagen beim blutigen Kampf um Aleppo kein Ende in Sicht ist, braucht nur einen Blick auf die Sitzung des UN-Sicherheitsrates in der Nacht zum Sonntag zu werfen. Diese Sitzung machte nicht nur die unüberbrückbaren Interessenunterschiede zwischen den rivalisierenden Lagern im Lande, vor allem aber auf der internationalen Bühne sichtbar, sondern auch das Scheitern einer seit mehr als 25 Jahren verfolgten westlichen Strategie, die einstige Supermacht Russland durch Einkreisung und militärische Bedrohung an ihren unmittelbaren Grenzen auf den Rang einer »Regionalmacht« herabzustufen.

Auf diese für ihn frustrierende Entwicklung hat der Westen keine wirksame Antwort, weil er um ideologischer Wunschziele willen die Realitäten in der Welt und speziell im Nahen Osten ignorierte und sich damit in eine politische und militärische Sackgasse manövrierte, aus der er nur noch einen Ausweg sieht – mit einer groß angelegten Propagandakampagne von dieser Niederlage abzulenken, wobei er in seiner Wut und Enttäuschung auf eine Wortwahl zurückgreift, die der Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Republikaner, Donald Trump, gerade hoffähig macht, sich aber dabei dennoch auch darauf verlassen kann, dass ihm die Mehrheit in seine Politik eingebetteter Medien, auch hierzulande, willig zur Hand geht.

Zur Erörterung und Abstimmung standen in New York zwei Resolutionsentwürfe – ein französisch-spanischer und ein russischer. Ersterer verlangte die Einstellung russischer und syrischer Luftangriffe auf Ziele im Ostteil Aleppos, die von gegen die Regierung kämpfenden Rebellen gehalten werden. Dass auch diese Rebellen, die von IS-nahen Gruppierungen dominiert werden, ihre Angriffe einstellen sollten, sah der westliche Entwurf nicht vor, d.h. er verlangte die faktische Entwaffnung der syrischen Autorität und einen Freibrief für ihre Bekämpfung. Dass Russland als Verbündeter Syriens eine solche leicht durchschaubare Selbstentblößung ablehnen würde, war von vornherein klar, weshalb die wahren Absichten ihrer Verfechter unter einer wahren Flut von Krokodilstränen über das Leiden der Menschen in Aleppo verborgen wurden – nach dem Motto: Wenn man mit seinen Argumenten am Ende ist, peitscht man Emotionen hoch, um sein Scheitern zu bemänteln. Für diese zynische Politik war das russische Veto im Sicherheitsrat ein willkommenes Instrument.

Vier Jahre lange hatte sich der Westen bemüht, im Zuge des so genannten arabischen Frühlings auch jene Länder in seinem Sinne zu beeinflussen, die sich bislang westlicher Herrschaft entzogen hatten und aus diesem Grunde in gewissem Maße die letzten Russland verbliebenen Einflusssphären in der Region waren. Das galt vorrangig für Libyen und Syrien. In beiden Ländern wurden innere Oppositionsbewegungen, die durchaus Grund zu Kritik und Widerstand hatten, gegen die Machthaber, Gaddafi und Assad, instrumentalisiert und dabei Schritt für Schritt von der politischen Auseinandersetzung weg auf militärische Aktionen orientiert.

Dazu trug ohne Zweifel bei, dass sowohl Gaddafi als auch Assad nicht selten mit Repression und physischer Vernichtung auf derlei Opposition antworteten, in viel stärkeren Maße aber die Ausstattung oppositioneller Gruppen mit westlichen Waffen und ihre logistische wie propagandistische Unterstützung. Denn vor allem in Syrien konnte sich der Präsident auf die Mehrheit seines Volkes stützen – nicht zuletzt deshalb, weil er in der Gesamtheit eine für die Region aufgeklärte Politik betrieb, in der weder andere Religionen bekämpft wurden noch der Islam das tägliche Leben in fundamentalistischer Weise dekretierte. Um dennoch die westlichen Ziele zu erreichen, musste die innenpolitische Auseinandersetzung zum Bürgerkrieg eskaliert werden, griffen schließlich andere Staaten mit eigenen Interessen – so Saudi-Arabien und die mit ihm verbündeten erzreaktionären arabischen Golfstaaten, die sich von der teilweisen Verweltlichung der syrischen Gesellschaft bedroht fühlten, so die Türkei, die die weitgehende kurdische Selbständigkeit auf syrischem Boden mit Argwohn sahin den Konflikt ein, was auf der anderen Seite zur Solidarisierung des Iran und der libanesischen Hisbollah mit Assad führte.

Diese Entwicklung hat jüngst der Publizist Jürgen Todenhöfer im Presseclub der ARD treffend beschrieben, als er die Einmischung in den inneren syrischen Konflikt ein »völkerrechtswidriges Verbrechen« nannte. »Wir haben überhaupt keine Rebellen in anderen Ländern zu unterstützen … Und wenn eine Revolution die Dinge schlimmer macht …, dann verliert jede Revolution ihre Legitimation.« Er zieht damit auch die Lehren aus den von außen gesteuerten »Revolutionen« in Afghanistan, Irak, Libyen, die sämtlich die Dinge schlimmer machten und in einer Katastrophe endeten. Dieses Resultat ist auch für Syrien vorgezeichnet, wenn die dortige »Revolution« bis zum bitteren Ende geführt wird, denn niemand unter den Vertretern dieses Weges hat bisher aufzuzeigen vermocht, wie dann die widerstreitenden Interessen zu einer Lösung kanalisiert werden können, die Chaos und die Fortsetzung von Terror und kriegerischen Handlungen verhindert. Auch nach einem Sturz Assads würde der Krieg in Syrien unvermindert weitergehen – an neuen Fronten und mit alten wie neuen Protagonisten.

Auf diese Perspektive versuchte der russische Resolutionsentwurf in New York eine Antwort zu geben. Er verlangte »ein Ende der Kampfhandlungen sowie einen schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe in ganz Syrien. Außerdem sollten sich radikale und gemäßigte Rebellen nachprüfbar voneinander trennen.« Er folgte damit sowohl dem zwischen den USA und Russland ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen vom 9. September als auch dem Vorschlag des UNO-Sonderbeauftragten de Mistura, die in Ost-Aleppo verbliebenen Rebellen aus der Stadt zu führen, um die Kämpfe zu beenden. Auch dieses Papier fand im UN-Sicherheitsrat keine Mehrheit. Jetzt blockierten es die Veto-Mächte USA, Großbritannien und Frankreich sowie sechs weitere Ratsmitglieder. Für sie schloss ein »Ende der Kampfhandlungen« offensichtlich Luftangriffe nicht ein; eine interessante Interpretation vor allem im Lichte ihres eigenen Vorgehens nach einem UNO-Beschluss zu einer Flugverbotszone in Libyen im Jahre 2011. Damals hatten die westlichen Hauptländer eine auch von Russland und China nicht abgelehnte UNO-Resolution gegen Gaddafi zu eigenen Angriffshandlungen genutzt und damit die bis heute anhaltenden gewaltsamen inneren Auseinandersetzungen erst ausgelöst.

Das versucht der Westen seitdem unbeirrt in Syrien zu wiederholen; dass Russland dazu nicht die Hand reicht, sondern so aggressiv wie die USA, England und Frankreich seine eigenen Interessen verfolgt, ist für den Westen eine Erfahrung, die er nicht verarbeiten kann. Er muss erkennen, dass die russische Politik viel wirklichkeitsnäher als die eigene ist und steht hilflos neben dem Geschehen. Syrien ist somit zu einem Wendepunkt in der globalen Auseinandersetzung geworden. Die USA mit ihrem willigen Gefolge sind längst nicht mehr die einzigen, die den Gang der Weltgeschichte bestimmen.

Lediglich auf seine medialen Hilfstruppen kann sich der Westen noch verlassen; sie beweisen mit ihrer Berichterstattung über die UN-Nichtentscheidungen gerade wieder ihre Unterwerfung unter die von oben diktierte Mainstream-Politik – bis hin zur Produktion von Unwahrheiten. So titelte die »Zeit«: »Russland stimmt gegen Feuerpause in Aleppo«, obwohl genau diese Feuerpause im russischen Resolutionsentwurf gefordert worden war. Nicht ganz so dreist wahrheitswidrig, aber zumindest einseitig waren die Schlagzeilen des »Spiegel«, der »Süddeutschen Zeitung«, der Welt«, die lediglich das russische Nein gegen den französischen Entwurf hervorhoben, nicht aber das der westlichen Veto-Mächte gegen das russische Papier.

Damit haben sich die sogenannten Qualitätsmedien wieder einmal weit von ihren Lesern, Hörern oder Zuschauern entfernt. Ein Blick in die Internet-Kommentare zu ihrer Berichterstattung genügt, um zu sehen, wie wenig Zustimmung sie erfahren; dafür aber jede Menge grundsätzliche Kritik, oft untermauert durch harte Fakten, die sie in der eigenen Berichterstattung verschweigen, um ihre Voreingenommenheit zu verschleiern. Diese Medien beweisen damit eine ähnliche Realitätsferne wie die ideologisch geprägte Politik. Insofern geht das Scheitern letzterer mit dem Versagen ihrer journalistischen Adepten einher.